Mind the "Trap"
Es ist eine bekannte Geschichte: Die Schwellenländer wachsen in der Regel mit höheren Raten als die „alten“ Industrieländer. Noch ist ihr Wachstumspotential höher. Der IWF erwartet für die Schwellenländer (Developing Economies) in diesem Jahr ein reales BIP-Wachstum von 6,3 %, 2022 dann von 5,2 %. Für die Industrieländer (Advanced Economies) liegen die entsprechenden Raten bei 5,6 % bzw. 4,4 %. Den Aktienmärkten der Schwellenländer kommt das höhere Wirtschaftswachstum aber nicht (immer) zugute. In den letzten gut zehn Jahren haben sich die Schwellenländer-Aktienmärkte gegenüber dem Welt-Aktienmarkt deutlich schlechter entwickelt. Insbesondere im Jahrfünft zwischen 2011 und 2016. Ein starker, aufwertender US-Dollar und schwache Rohstoffnotierungen waren doch eine zu starke Belastung. Seither konnten die Schwellenländermärkte immerhin einigermaßen Schritt halten. In diesem Jahr jedoch wieder nicht. Seit Jahresanfang trat der breit gefasste MSCI Emerging Markets Index (MSCI EM) auf der Stelle; die Aktienmärkte in den USA oder in Europa (jeweils gemessen am MSCI-Index) konnten 20 % zulegen.
Es galt also wieder einmal die alte Regel, dass man an den Aktienmärkten wirtschaftliches Wachstum nicht „überbezahlen“ darf. Denn entscheidend ist nicht, wie hoch die Zuwachsraten einer Volkswirtschaft sind, sondern wie stark die Gewinne der börsennotierten Unternehmen steigen und welchen Pfad die Eigenkapitalrendite (Return on Equity) einschlägt, wie solide ihre Bilanzen und damit die Verschuldung (Leverage) sind, und ob es ihnen infolgedessen gelingt, ihren Buchwert je Aktie zu steigern. Mit Blick auf solche Maßstäbe können zwar durchaus einige Unternehmen aus der BRIC-Region in der internationalen, von US-Unternehmen angeführten Liga mitspielen, aber die Mehrheit schafft es nicht. Für die nächsten 12 Monate wird für den MSCI Emerging Markets Index ein Gewinnzuwachs je Aktie von durchschnittlich 4 % erwartet. Das ist vor allem China zu verdanken: China trägt mit über 33 % Gewicht und einem erwarteten Gewinnwachstum von über 13 % quasi alleine zur Gewinnsteigerung bei. Russland und Brasilien werden vermutlich Gewinnrückgänge verzeichnen. Die für den US-Aktienmarkt erwarteten Gewinnzuwächse liegen auf Einjahres-Sicht bei 6,3 %, für Europa etwas darunter. Richtig ist aber auch, dass die Aktienmärkte der Schwellenländer in der Regel deutlich günstigere Bewertungskennzahlen aufweisen. Die durchschnittliche Aktie im MSCI China Index als auch im MSCI Emerging Markets Index wird mit dem rund 13-fachen der für das kommende Jahr erwarteten Gewinne gehandelt. Russland oder Lateinamerika liegen bei diesen Kennziffern im einstelligen Bereich. Die so errechneten Kurs-Gewinn-Verhältnisse amerikanischer Aktien (MSCI USA oder S&P 500) liegen bei über 20, für den MSCI Europa etwas darunter. Dies spricht auf den ersten Blick für die Schwellenmärkte.
Aber: Vorsicht vor der „Bewertungs-Falle“ (Value Trap). Auf die überragende Bedeutung der Gewinnentwicklung wurde bereits hingewiesen. Weiteres ist zu beachten. Die Indexzusammensetzung in einigen Schwellenländern ist zum Teil auf nur wenige Sektoren konzentriert. Schwächephasen dort können den gesamten Markt beeinträchtigen. Das Beispiel Chinas verdeutlicht dies anschaulich. Die Regulierungsbemühungen der chinesischen Regierung gingen beispielsweise auch zulasten chinesischer Technologiekonzerne wie Alibaba oder Tencent. Sie sind nicht nur prägende Mitglieder im MSCI China Index; chinesische Technologiewerte machen über 17 % des MSCI Emerging Markets aus. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es offen und im Reich der Spekulation, wie tiefgreifend die Regulierung in China die Geschäftsmodelle der betroffenen Unternehmen verändert. Wenn es wirklich nur um Datenschutz und nationale Sicherheits- und Erziehungsinteressen geht („süchtig“ machende Videospiel, „zu teure“ online-Nachhilfe) sind die inzwischen erreichten Kursniveaus und Bewertungen chinesischer Tech-Werte attraktiv und bieten auf mittlere Sicht Potential. Sollte jedoch mehr politischer Regulierungsdruck aufkommen und verändern sich die Geschäftsmodelle nachhaltig, gilt dies nicht. Allerdings dürfte der chinesischen Regierung im Interesse des neuen polit-ökonomischen Ziels eines „gemeinsamen Wohlstandes“ vermutlich wenig daran liegen, Unternehmen die auf Augenhöhe mit ihren US-Wettbewerbern stehen nachhaltig zu schwächen.